Es heißt nichts, am eigenen Geburtstag mit längst offenen Augen zu erwachen und zu wissen, daß das Herz zu schlagen aufgehört hat. Seit Tagen, vielleicht schon jahrelang, ohne daß ich es wahrnehmen wollte, schmerzte mich das Herz. Das Stechen war von einer gewissen Unlust begleitet, die ohne besonderen Zusammenhang zutage trat. Eigentlich war mir längst schon alles voll Unlust.
Das Herzstechen hat mich auch nicht sosehr besorgt, hat nur meiner Unlust noch weitergeholfen. So geht es mit einem stetig bergab, immer die Hoffnung auf etwas, das einen aufrichten könnte, eine Ermunterung, Erbauliches. Manchmal wünschte ich mir schon einen richtigen Schmerz, wenn schon an Freude nicht zu denken sei. Es ist lange her, daß ich über irgendetwas hätte klagen können. Es gibt nichts zu klagen. Mir fehlt es nicht an Geld, nicht an Kraft und nicht an Ideen, die mir bei der Arbeit von Nutzen sind. An Kindern mangelt es mir nicht und überdies nicht an Angeboten mehr oder weniger attraktiver Männer. An Liebe mangelt es mir nicht. Was soll es mir an Liebe mangeln? Ich werde schon von der Liebe genug haben, nehme ich an. Liebt mich mein Mann etwa nicht? Lieben die Kinder ihre Mutter nicht? Und liebt mich der Liebhaber etwa nicht? Gerade er redet von solchen Dingen, von Liebe, von zu wenig Liebe, von Aufmerksamkeit, Wertschätzung. Ich kann nur sagen, wenn er mich fragt, daß er mir natürlich wichtig ist. Das Gegenteil wäre ja dumm. Aber ich weiß nicht, was er will. Er redet immer weiter und weiter. Immer redet er nur und redet und fragt und stellt sich das eine so vor, und das andere so. Nicht in meinem tiefsten Innersten habe ich je so viele Probleme so endlos erörtert. Ich sehe ihn an und tue gut daran, Aufmerksamkeit merken zu lassen. Er aber will Antworten, will Auseinandersetzung. Ich aber verstehe die Fragen nicht. Bin ich blöd? In meinem Beruf bin ich geschätzt und wohl deshalb gut bezahlt, weil ich die Aufgaben verstehe und Projekte danach erarbeiten kann; den kürzest möglichen Weg zum Ziel, unter sparsamem Umgang mit den Mitteln. Da gibt es kein Problem, es ist Arbeit. Manchmal ist der nächste Schritt nicht gleich zu sehen, hie und da verschwindet das Ziel aus den Augen. In diesem Bereich gibt es immer ein Lösung. So kann man arbeiten und etwas weiterbringen. Was aber mein Mann von mir will, ist nicht zu fassen. Will er mehr Sex? Männer kreiden ihren Frauen an, daß sie zu selten Lust zur Hingabe haben. Aber das ist es nicht. Die Häufigkeit unseres Geschlechtsverkehrs müßte durchaus befriedigend sein. Ich weiß, daß ich meine Augen nie mehr schließen werde. Und ich weiß, daß heute mein Geburtstag ist. Ich muß natürlich sofort aufspringen, aus dem Zimmer laufen und die Familie in Kenntnis setzen. Ich bleibe liegen. Vor den Dingen, die über mich kommen - starken plötzlichen Anwandlungen - fürchte ich mich aus guten Gründen. Wenn man entdeckt an Krebs zu leiden, oder leidenschaftlich verliebt zu sein, oder vor dem endgültigen Ruin zu stehen, oder was auch immer einem mit Heftigkeit bewußt werden kann, gibt es den grellen Aufschrei, den verhaltenen Schrei, der gar nicht nach außen dringt, und den zurückgeholten Schrei. Daß einer gar nicht aufschreit, wenn ihm Unfaßbares zustößt, kann ich mir nicht ganz vorstellen. Dennoch, ich habe mich immer gerade so verhalten, und ich glaube, die meisten tun es so, daß sie gar nicht aufschreien, sondern ihre Lage überdenken. Wenn endlich nach allen Ergründungen ein Aufschrei gerechtfertigt scheint, steht man den Schrecken nicht mehr gegenüber, sondern ist bereits an einen heran und in einen hineingewandert. Es kann Auflehnung oder Unterwerfung sein. Ich habe mich zur Unterwerfung entschlossen, weil ich dabei an Überlistung dachte, und daran, Zeit zu gewinnen um klüger zu werden. Ich kann ja zu meinem Mann rennen und ihm mitteilen, wie es um mich bestellt ist. Was wird er sagen? Wie vor allem soll ich es ihm sagen? Welcher Ton, welche Worte wären zu wählen? Er beschwert sich doch schon, daß ich ihn niemals bei seinem Namen nennen kann, und ich kann ihm nicht erklären, warum mir das unmöglich ist. Wie soll ich ihm dann meinen Tod mitteilen? Was mir passiert ist, ist nicht mitteilbar. Es ist nicht nur zu verschweigen und das Schweigen zu hüten, es ist überhaupt unvorstellbar, daß irgendjemand, dem nicht das Gleiche widerfahren ist - das Gleiche !!! - mich verstehen wird; nicht zurückstoßen und in Zukunft meiden und andere vor mir warnen wird. Was man nicht wissen kann, wenn man gerade erst tot geworden ist - man wird es auch später nie wissen - ob es ein Aufschub, oder der Antritt der Ewigkeit ist. Mit einem Mal hat man einen Spiegel vor sich. Ich spreche immer nur von meinen eigenen Erfahrungen. Sich tot im Bett liegen sehen, das ist der Tod. Alles Leiden fängt erst dadurch an, daß man sich darin sieht. Alles, denn das Sehen ist der Tod und ist das Leiden. Das aber ist keinem Lebenden mitzuteilen. Nur der Tote weiß sich in einem fort selbst zu betrachten. Darum geht keiner der Toten hin und sagt zu einem Vertrauten, noch weniger zu irgendeinem: Schau mich an und fühle an mir, ob du noch irgendetwas an mir fühlen kannst! Ein Toter wird sich hüten, einen Lebenden allzu nahe an sich heranzulassen. Ein Toter kann sich nicht schützen, daß sich einer ihm nähert, immer mehr nähert und schließlich durch ihn hindurch wechselt, dabei Spuren hinterläßt ohne es zu merken. Das aber ist das größte Entsetzen des Toten: zusehen zu müssen, wie der Platz, den er einnimmt, von jedem x-beliebigen überschritten werden kann. Groß wäre das Entsetzen. Gar nicht vorhanden aber sind die Mittel des Toten, sein Leid, seinen Schrecken und seine Trauer mit einem Zeichen zu versehen. Ein Toter weint nicht. Er lehnt sich an keinen, er greift nach keiner Hand. Ein Toter hat nicht zu weinen und weint sicherlich nicht. Alles, was dem Lebenden helfen kann, hilft dem Toten sicher nicht. In keinem Fall kann sich der Tote irgendeinen Trost erhoffen. Er hofft auf keinen Trost und träumt von nichts anderem. Tot sein heißt, Waise zu sein; von Geburt an keine Eltern gehabt, und seine Geburt vergessen zu haben. Das heißt tot sein. Daher lebt der Tote in einer in jedem Augenblick fremden Welt. Im Toten spaltet sich die Welt insofern in ihre Widersprüchlichkeiten, als er alle Dinge ständig neu benennen muß, und die Namen ihm nichts bedeuten. Und insofern, als er ständig nahe am Weinen ist, er des Weinens aber nicht fähig ist. Oder insofern, als er sich in seinem Leben betrachtet, aber sein Leben nicht Leben nennen kann. Es braucht viel mehr Worte als mir lieb ist, um eine Ahnung von meinem Zustand zu geben. Es kostet soviel Mühen, die Probleme eines Toten zu beschreiben. Und die Mühe ist vergebens. Was es heißt, wenn man weiß, daß einem das Herz nicht mehr schlägt? Man glaubt der einzige derart entartete Mensch zu sein. Denn man kann nicht bitten, die Hand auf die Brust eines anderen legen zu dürfen, um den zu erkennen, der ebenfalls umher wandelt und tut wie alle tun, dessen Herz aber ruht. Die Toten so weiß man doch, ruhen in der Erde. So ist man also die Einzige, die stets achten muß, in der Nähe der Heizung oder in der Sonne zu sitzen, aus Angst, bei einer Berührung einem Menschen durch die Körperkälte Schrecken zu erzeugen. Denn der Körper des Toten wärmt sich nicht aus eigener Kraft. Ich kann nicht zum Arzt gehen, denn er würde mir ein Thermometer ins Ohr stecken und meinen Herzschlag abhören wollen. Er würde meine Atmung hören und meinen Harn sehen wollen. Die Kinder finden manchmal, daß ich mich „komisch“ anfühle. Ich bin geistreich und erfinderisch und konnte ihre Aufmerksamkeit immer wieder zerstreuen. Auch mein Mann merkt nichts. Er liebt mich, und sein Körper, wenn ich nicht allzu sehr ausgekühlt bin, wärmt mich erstaunlich schnell, daß mir fast wohlig wird. Natürlich muß ich achten, mich genauso warm anzuziehen wie alle anderen. Ich könnte stundenlang nackt im Schnee liegen, ohne Schaden zu nehmen. Ich bekomme keinen Schnupfen. Aber ich kann darauf achten, an Schnupfen zu leiden, wenn er grassiert. Ich erinnere mich sehr gut, wie es ist Schnupfen zu haben. Ich erinnere mich auch an alle anderen Arten von Unpässlichkeit und Schmerz. Es ist wie das Jucken des amputierten Beines. Ich bilde mir ein, daß mein Körper noch belebt sei. Schlimmer noch, ich wache nachts auf, obwohl ich keinen Augenblick geschlafen, nur so getan habe, um meinen Mann nicht zu stören, and leide an beängstigenden Herzschmerzen. Ich kann Sterbensängste dabei haben. Denn der Schmerz ist als käme er vom Herzen. Später aber scheint mir, als luge er hinter dem Herzen hervor und spähe nach der Speiseröhre aus. Er sitzt dann am Mageneingang und hat schon eine Hand nach dem rechten Schulterblatt ausgestreckt. Aber er scheint sich in die rechte Lungenspitze verschaut zu haben. Zwischen ihr und der Leber kann er sich nicht entscheiden. So spielt er Versteck mit mir, und wenn ich atme reißt er mich zusammen. Der Schmerz kann den Rumpf verlassen und in den Kopf ziehen. Er scheucht die eine Hälfte des hinter der Stirn ruhenden Vorderhirns auf, und treibt sie auf ihr Gegenüber zu. Er sammelt sich auf einer Seite und ballt sich dort. Er streckt Scheinarme aus und kann sich zu einem Nagel formen. Es ist zum Verzweifeln: ich mache keinen Dreck. Ich schwitze nicht und stinke nie, habe nie auch nur den geringsten Geruch an mir, der von mir stammt. Ich finde ich bin sehr tapfer. Wer sonst muß es aushalten, alles zu spüren, was von den Menschen ausgeht, wer sonst liest die Gedanken, weiß auch schon von den Gedanken, die noch gar nicht gedacht sind. Dabei ist kein Geheimnis darum. Ein nahender Gedanke, der im Begriff ist, sich Gestalt zu verschaffen, schafft Spuren, ebenso wie der vergangene. Der Spurenleser deutet das Kommende und das Vorbeigegangene. Nur er aber trägt die Last, überall Zeichen zu sehen. Ich finde, daß ich tapfer bin, denn ich kann mit keinem über die Zeichen sprechen, und wenn ich schweige, tröstet es mich auch nicht. Noch nie war ich mit meinem Mann so eins und glücklich. Wenn er sagt, daß er uns beide sosehr mag, stimme ich ihm bei, freue mich, und möchte sagen, daß ich noch viel glücklicher wäre, wenn ich am Leben wäre. Ich hüte mich, Geheimnisse vor ihm zu haben, und ich muß ein Geheimnis haben und hüten. Die Kenntnis von meinem Tod würde ihn mehr treffen als irgendwas. Man muß, den man liebt, schützen vor der Erkenntnis, unter der man selbst zu leiden hat. Oder gibt es einen Weg, sich anzuvertrauen? Kann die Liebe imstande sein, eine Tote zu lieben wie eine Lebende? Aber ich sage ganz anderes: Ich bin auf vielfältige Weise verliebt. Wen von den Lebenden sehe ich so verliebt wie mich? Wer, wenn ihm auch der Schädel zerspringen möchte, ein Schädel der doch gar nichts mehr spüren kann, freut sich so wie ich? Wer schätzt, verehrt, schert sich um das Heranwachsende, das Atmende und das Geängstigte? Wer kniet vor dem Fallengelassenen? Jedem wird schwindlig. Jeder errötet, schämt sich, geht durch Ziegelwände und schreitet über Hundekot ohne ihn zu berühren. So möchte ich viel lieber sagen: Jeder außer mir weiß nicht wie er sagen soll, wie warm ihm wird wegen einem jungen Menschen, eines Kindes und einer Alten. Jeder, das hätte seine Ordnung, wird geliebt, wahrgenommen und geschätzt, nur ich nicht. Aber man läuft einer Toten entgegen. Sogar ein Hund wedelt.
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Monica Cselley aka „Monica C. Abbalonga-Borboleta“ aka „blattlmwind“ - Dichterin - Visual Arts - LEISE KUNST Archiv
Juni 2020
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