Sie hat eigentlich keine Persönlichkeit. Ich wüßte aber auch nicht, was so eine behauptete Persönlichkeit ist; habe noch nie eine greifbar erlebt. Ich kann sie schwer beschreiben, das wollte ich damit sagen. Ich kann aber niemanden gut beschreiben, denn wenn ich jemandem Eigenschaften zuordne, frage ich mich gleich, ob die denn tatsächlich so auf ihn zutreffen, und ob er sich denn dadurch von anderen unterscheidet. Eine Eigenschaft, die sie auffällig von anderen unterscheidet, ist ihre Wahrhaftigkeit: Sie erträgt es nicht, wenn das was sie denkt, sagt, tut, ist, eine Lüge enthält.Dem Hündchen fallen die Strumpfhosen zum Opfer. Es schmiegt sich an mich, spießt mich aber auch mit seinen Krallen. Natürlich bin ich an manchen Laufmaschen auch selbst schuld. Sie treibt einigen Aufwand, sich in ihrer Haut wohl zu fühlen. Es soll ein schlanker Körper sein. Seit ein paar Jahren wird er nur noch pflanzlich ernährt; und das tut ihr sehr gut. Sie liebt Strumpfhosen; zur Zeit. Welche Berechtigung und Größenordnung hat mein Kummer daß ich keine heile Strumpfhose mehr habe - oder die Angst davor - angesichts der Situation dieser von den Befreiern zerstörten, entvölkerten, besetzten Stadt? Es geht um heile Strumpfhosen. Wir wollen angenehm satt sein, in Ruhe gelassen werden, und daß das Leben funktioniert, wollen wir an der Verfügbarkeit der Dinge wie feiner Strumpfhosen merken.Eine Stadt muß einen Fluß haben. Durch sie oder an ihrer Flanke muß ein Strom ziehen. An der Größe des Gewässers bemißt sich, welche Bedeutung sie erlangen kann. Hat sie einen kleinen Fluß oder eher einen Bach, an dessen Ufern sich schattig spazieren läßt, wird man da angenehm wohnen können. Städte, die von einem breiten, geraden Strom durchbrochen werden, neigen zu besonderer, wenn auch unpersönlicher Größe. Die Breite und Tiefe des Flusses flößt zugleich Macht und Angst ein. Mächtige, ausgiebig mäandrierende Flüsse machen Städte, die größte Schönheit und Lebenskunst ebenso haben wie ausreichend unlösbare Probleme.Unbeschreiblich das Elend in den unteren Bereichen. Unbeschreiblich der Überfluss der dünnen obersten Schicht dieser Stadt. Keinesfalls aber leiden alle Menschen an den brutalen Ungerechtigkeiten so wie ich. Gerade unter denen, die schwer daran zu tragen haben, gibt es viele die ihr Leben geben würden, eine gerechtere Stadt zu verhindern. Ich beschließe, weiter daran zu scheitern, diese Stadt befriedigend zu beschreiben. Ich werde mich aber weiterhin mit ihr beschäftigen, werde sie und ihre Menschen betrachten, so weit ich es ertragen kann, und sie darstellen so gut ich kann.Aus anderen Leben weiß ich, wie unwirtlich eine verlassene, eine besiegte und entvölkerte Stadt sein kann. Einige Viertel hier sind tatsächlich unwirtlich, gerade sie erlebe ich als sehr romantisch, weil sie so darunter leiden, von ihren Menschen verlassen worden zu sein. Die hochentwickelten leben bestens ohne Menschen. In ihnen ist für alles gesorgt. Alles wird stetig erneuert; ein Luxus-Ökosystem.Eine kurze Antwort zur Frage Autismus: Sind nicht alle Menschen Autisten. Oder sind „normal“ die, denen ihr Autismus nicht auffällt. Autisten sind die, die besorgt sind, das etwas befremdlich ist. Ein Leben lang rätseln Autisten, was denn nicht stimmt, ob an ihnen oder den anderen. Daher sind sie Autisten. Die anderen rätseln nicht; sind viel zu sehr mit sich beschäftigt. Normale sehen andere Menschen und fragen sich wie man sie nutzen kann.All die Menschen, die nicht mehr (hier) sind, hatten immer viel vor; das sah man ihnen an. „Sie hatten vor,“ denkt sie, „vehement danach auszusehen, viel vorzuhaben; und daran noch zuzulegen.“ Sie unterbricht ihr Nichtstun, um sich den Schädel zu rasieren: der Kopf muß rund, glatt und weich sein; samtig. Ihre Lebensauffassung verlangt Haarlosigkeit. Während des Rasierens können ihr gute Gedanken kommen, und ein wenig länger als sonst bleiben. Daß der Apparat nur einen gleichbleibenden Ton summt, hält die Bilder ein Weile, wie man einen Schmetterling zwischen den hohlen Händen halten kann, wenn man spürt, daß er sehr sehr bald wieder freisein muß.Vielleicht ist es gut, wenn einmal alle Menschen weg sind. Kein Mensch mehr da. In dem Augenblick kam ihr der Gedanke, das alles könnte allein für sie geschehen sein. Sie denkt sich das - oder läßt den Einfall zu - um der gespenstischen Situation eine gute Stimmung zu geben. Daß auch nur das Winzigste wegen ihr geschehen könnte ist ihr so absurd und undenkbar, daß es als Gedankenwitz denkbar ist, die vielen Millionen Menschen seien verschwunden um ihr den Kopf, die Gedanken und den Blick freizumachen, aber auch alle Flächen und Wege um auzuschreiten, und im gedankenverlorenen, blickverschleierten Dahingehen von keinem gerempelt zu werden, aber auch nicht angestarrt, angesprochen, angebettelt. Keine Menschen, nichts bewegt sich, Stille. Nur von ihr könnte eine Laut oder eine Bewegung kommen. Sie faltet wieder einen Papierflieger sehr sorgfältig, und wirft ihn. Es wäre ihr niemals möglich gewesen, hierher zu gelangen und Papierflieger auf den Platz zu werfen. Fraglich, wer überhaupt je Zugang zum Dach der Kirischitz-Bibliothek hatte.Dafür wiederum hätte ich dich gerne (hätte ich gerne, daß es dich gibt), daß du mich fragst, ob ich denn einsam sei. Und ich kann dann stottern, wie es eben geschieht, wenn ich etwas zu erzählen und erklären versuche, und dabei immer mittendrin weiter ausholen muß, etwas weiter her zu holendes beifüge, das Selbstverständliche wiederhole und wiederhole, weil es sich mir nicht aufklärt. Und so halt über das einsam sein. Unbedingt muß ich damit beginnen, oder in der Schilderung dorthin gelangen, daß ich mich verstandesmäßig wohl als einsam zu betrachten habe, aber mir nicht sicher sein kann, weil ich ja nichts anderes kenne seit ich auf der Welt bin. Von anderen Leben würde ich dir noch sehr lange nichts erzählen. Natürlich würde es so aussehen, daß ich die Menschen viel beobachte und mir vieles zusammenreime, ohne mir je sicher zu sein. Darüber würde ich gleich viel sprechen, wie unsicher ich bin, weil ich ja glaube, daß es jeder sofort merkt. Ich bin unsicher, ob die Menschen in ihren Paarungen und Rudeln nicht ebenso einsam sind und noch viel mehr. Ich bin mir nicht sicher, denn es kann auch sein, daß sie kaum einsam sind im Vergleich zu mir, da sie über keinerlei Ideen darüber verfügen, was sich anstellen ließe, wenn man nicht allein wäre, sondern einen passenden Menschen hätte. Vielleicht aber glaubt kaum einer an einen passenden Menschen, denn man hat das noch kaum einmal, also nie, gesehen. Also bedeutet die Nicht-Einsamkeit immer Täuschung und alle Arten von Zoff.Wichtig ist, daß sie sich selbst süß findet. Und sie findet sich süß! Auch wenn sie trotz Zufriedenheit über Verbesserungsmöglichkeiten nachdenkt. Sie möchte weiblich sein, ohne über die gewöhnlichen weiblichen Merkmale in auffälliger Größe zu verfügen. Weiblich auf knabenhafte Weise. Weiblich in zweideutiger Weise. Rätselhaft weiblich. Jedenfalls unaufdringlich, selbstverständlich für jemanden, der unsichtbar sein möchte. Wenn man untergehen will in den Wellen der Menschen, müßte man sich wohl häßlich machen. Sie hat das lange Zeit versucht. Oh Mann! Sie hat gefressen und gesoffen um ihre Zartheit wegzukriegen. Hat sich ungeschickt gekleidet, den Gang der anderen nachgemacht und ihre Sprache; so gut es ging. Es war gräßlich, ob es die anderen überzeugt hat bezweifle ich.
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